ZEITREISE
SEBASTIAN: Unsere war der Nahkampf, dieser ist der autarke Kampf. Das bedeutet, wir waren losgelöst von Versorgungs-
strukturen in Kleingruppen hinter feindlichen Linien. Ausgerüstet wurden wir mit der neusten Technik an Waffen, Fahr-
zeugen etc., es fehlten aber die textilen Komponenten.
2003
WIE FING ALLES AN UND WANN HABT IHR
EUCH KENNEN GELERNT?
MARTIN: Sebastian und ich haben uns 2003 bei der Bundeswehr kennengelernt. Wir waren dort gemeinsam in Doberlug-
Kirchheim in dem Fallschirmjäger Bataillon 373 stationiert. Nach der Grundausbildung begann für uns die Spezialisierung.
MARTIN: Wir hatten Nachtsichtgeräte, aber keine passenden Taschen. Es wurden standardmäßig zwölf Magazine für das
Sturmgewehr ausgegeben, die wir losgelöst von der Versorgung mit uns mittrugen, dazu gab es nur zwei oder drei
Magazintaschen. Die veränderte Kriegsführung, mit Angriffstaktik und Orts- und Häuserkämpfen, passte nicht mehr zu
den bereitgestellten Ausrüstungsgegenständen, die der Soldat, also wir, mit sich führen mussten.
SEBASTIAN: Wir konnten nicht einfach neue Ausrüstungsgegenstände bestellen. Zum einen musste die textile Ausrüs-
tung günstig, universal und stabil sein. Und „stabil“ hieß nicht „Haltbarkeit“, sondern es ging um die Anschaffungskosten,
da wir die Wehrpfl icht hatten. Dieselbe Ausrüstung wurde zig Generationen von Soldaten immer wieder durchgereicht.
Das heißt, es war zweckmäßig. Es ist ein System und es soll so lange halten, dass die Ausrüstung mindestens zehn
Zyklen von Wehrpfl ichtigen überlebt, bevor es kaputt geht. Auf die Aufgaben hin spezialisierte Textilien gab es nicht.
MARTIN: Das Verteidigungsministerium/Beschaffung hat nur gigantische Aufträge rausgegeben, Kleinstmengen waren
nicht möglich. Kaufen konnte man nichts, außer gebrauchtes Zeug und das brauchst Du nicht kaufen, weil das ja das ist,
was nicht passt.
SEBASTIAN: Genau und weil die Bundeswehr den Bedarf nicht auf Lager hatte, war das der Grundstein, warum wir jetzt hier
sind - wo wir sind - dass wir angefangen haben, selbst Sachen für uns zu nähen - zu improvisieren. Doch Stoff, wie wir ihn
benötigten, konnte wir damals nicht käufl ich erwerben. Das gab es nicht auf dem Markt.
MARTIN: Aus der Not zerschnitten wir eine Feldbahn, schrieben einen Sachschaden und eine Verlustmeldung, dass diese
Feldbahn nicht mehr auffi ndbar ist. „Sie wurde wahrscheinlich beim letzten Übungsgefecht im Wald verloren“ … und nun
muss dein Dienstgrad höchster Vorgesetzter dieses bestätigen, dass er das glaubhaft fi ndet und er entscheidet, ob du
eine Strafe bekommst oder nicht. Normalerweise, wenn ein Soldat seine Sachen verliert, wirst er bestraft. Wurden wir
aber nicht, da sie wussten, dass wir unsere Ausrüstung selbst nähen bzw. reparieren. Also ging massenhaft Ausrüstung
verloren, wurde klein geschnitten und aus diesen Stoffbahnen bzw. Stoffstücken, Jacken, Magazintaschen usw. genäht.
WIE GING ES NACH DER BUNDESWEHR WEITER?
2009
SEBASTIAN: Die Möglichkeit der Verlängerung unserer Dienstzeit war da und die Frage kam auf, wollen wir noch mal 8
oder 12 Jahre diesen Dienst machen? Unser Wunsch eine Familie zu gründen, Vater zu sein kollidierte mit dem Job, wir
hätten zu viele private Opfer bringen müssen. Also haben wir mit viel Schmerz und Wehmut dann den Entschluss
getroffen zu gehen, weil wir wollten, ja auch keinen Bürojob bei der Armee machen - das war uns zu blöd.
MARTIN: Nun standen wir auf einmal im zivilen Leben ohne richtigen Plan, was berufl ich machen sollten. Ich hatte BWL
studiert und Sebastian hatte eine Lehre als Automechaniker absolviert. Uns war klar, dass die Technik sich weiterent-
wickelt, dass die Bundeswehr sich verändern wird – es gibt eine Spezialisierung der Soldaten und die Bundeswehr wird
noch eine Zeit in Afghanistan stationiert sein. Unser Wunsch und unser Plan war es, eine kleine Konfektion aufzubauen,
um allen den Zugang zu ermöglichen, sich Dinge selbst zu nähen oder zu reparieren. Wir hatte dazu so viel Erkenntnisse
erlangt und wussten, wie mühselig es war Ersatz zu beschaffen. Aus diesem Grund wollten wir Abhilfe schaffen und die
Soldaten unterstützen.
SEBASTIAN: Aber so einfach wie wir uns das dann vorstellten war es nicht. Der Markt an privaten Firmen, die in Deutsch-
land militärisch taugliche Ausrüstung hergestellt haben, belief sich auf Drei. Theodor, Cäsar und Linderhof, mehr
gab es nicht.
ERNÜCHTERUNG – WAR DER TRAUM SCHON GESTORBEN?
2010
MARTIN: Eigentlich war es von Anfang an zum Scheitern verurteilt. Uns fehlte schlicht und einfach das Geld und ein
Lagerplatz. In der Textilindustrie sind die Mindestbestellmengen sehr hoch. Für die Herstellung eines Rucksacks werden
viele Einzelteile wie Stoffe, Schnallen, Bänder, Reißverschlüsse, Futter etc. verbaut. Man benötigt im Durchschnitt sieben
verschiedene Artikel bei sieben verschiedenen Herstellern und hat überall die Mindestbestellmenge. Tausende von Meter
Stoff oder eine Plastikschale nach deutscher TL von Schoko - da ist die Mindestbestellmenge 25.000 Stück pro Farbe
und Größe! Wenn wir dann vier Schnallen benötigen, wären das ja schon 100.000 Artikel, die wir uns hätten hinlegen
müssen, um vielleicht zehn Rucksäcke zu bauen. Es skaliert nicht. Wir merkten schnell, oh, das geht hier an die Wand.
Dementsprechend zogen wir die Reißleine und die paar Materialien, die wir hatten, verkauften wir auf Ebay.
SEBASTIAN: Die Ware verkaufte sich sehr schnell und uns war wieder mal klar, dass der Bedarf extrem hoch ist und nicht
nur wir vor der Hürde der Mindestbestellmengen standen.
GLEICHE IDEE / NEUER ANSATZ?
SEBASTIAN: Das mussten wir auch, denn keiner hat an uns geglaubt. Die Textilindustrie war 2000 - 2010 in dem Bereich
am Abwandern. Alles ging nach Asien. Jede Bank fragte, was wollen Sie machen und zeigten nur Unverständnis.
Sie konnten es sich einfach nicht vorstellen. In ihren Köpfen war der Kunde in der Textilbranche weiblich, dass wir auch
an Ministerien verkauften, und an viele kleine Unternehmen konnten sie nicht verstehen. Also war unser Rating
schlimmer als… keine Ahnung. Alles, was wir da angebracht haben, unsere Ideen und Visionen brachte keinen Erfolg.
Die haben sich eher darüber totgelacht. Textiler – nein, über das Internet verkaufen – auf gar keinen Fall. Das heißt, wir
hatten nicht mal einen Dispo bekommen. Gar nichts. Keine Chance. Also mussten wir, um zu wachsen, auch die ersten
fünf Jahre das gesamte Geld in der Firma lassen.
WIE KONNTET IHR DAS MIT EUREN FAMILIE VEREINBAREN?
MARTIN: Schwierig, alles wurde nebenbei aufgebaut, nach Feierabend. Ich arbeitete tagsüber in meinem Job und abends
kümmerte ich mich um den IT-Bereich, bearbeitete den Bürokram, den Einkauf, weil viel über die USA stattgefunden hat.
Das war sogar praktisch wegen der Zeitverschiebung. Und Sebastian hatte eine Zeitlang eine 3-fach Belastung. Tagsüber
sein regulärer Job, dazwischen Tacticaltrim und in den Abendstunden fuhr er noch Zeitungen aus. Er war mit unserem
Lager (welches am Anfang bei ihm im Wohnzimmer war) beschäftigt, hat die Stoffe geschnitten und in Briefumschläge
per Post verschickt, halt die ganze Logistik. Dadurch, dass wir immer reinvestiert hatten, konnten wir größere Mengen
abnehmen, damit wuchs die Warenmenge und schließlich musste das Lager 2010 in den Keller umziehen. Es war für alle
beteiligten nicht einfach, die Doppelbelastung und jahrelang zu hören: „Morgen sind die Pleite, das sind ja Spinner.“
Überall belächelt zu werden, aber die anderen haben ja nicht gesehen, was wir gesehen haben.
WANN WURDET IHR INTERNATIONAL?
2011
MARTIN: International gewachsen sind wir quasi ab dem zweiten Jahr. Wir sind zwar ein deutsches Unternehmen, und
natürlich ist der deutsche Markt der Wichtigste und Größte. Aber durch dieselbe Entwicklung, die in Deutschland statt-
fand - also von der Kalten Kriegs Armee zur Einsatzarmee - die weltweit vonstattengegangen war, hatten sie exakt
dieselbe Thematik. Auch hier gab es Soldaten, die sagten, ich fange jetzt an zu nähen, wo ist der Stoff? Ohne Angestell-
ten und ohne Vollzeitjobs besaßen wir nach kurzer Zeit schon Kunden in 50 Ländern. Das führte auch zu Unverständnis
bei allen Lieferanten, denn es glaubte kein einziger Hersteller, dass zwei People ohne Geld aus Berlin, die auf der Messe
im Auto schlafen, gesagt haben, wir machen internationale Geschäfte. Nach einer weile belieferten wir nicht nur
Endkonsumenten, sondern auch Gründer, kleine Firmen, die mit uns dann gewachsen sind. Wir können uns auf die Fahne
schreiben, dass wir mehreren hunderten Leuten in der Welt ihre Selbstständigkeit überhaupt möglich gemacht haben.
Sonst hätten diese Menschen niemals ihren Markt bedienen können. Wir waren der Inkubator, der Katalysator, der durch
unsere Vorratshaltung das geschaffen hat.Das heißt, der Markt hat uns recht gegeben, was das angeht.
WANN KAM DER DURCHBRUCH UND WANN KONNTET IHR IN EINEN
VOLLZEITJOB BEI TACTICALTRIM WECHSELN?
2012
SEBASTIAN: Nach dem Umzug in unser erstes Büro 2012 mit 35 qm wurde das Büro schnell zu klein und auch dass es im
ersten Stock lag, war mit der Anlieferung der Waren ein echtes Problem. Zu der Zeit hatte ich neben Tacticaltrim immer
noch zwei Jobs. Das war kräftezehrend, somit entschlossen wir uns 2013 in unsere erste Halle zu ziehen und ich gab
meine anderen Arbeitsstellen auf und widmete mich Vollzeit um unseren Shop.
2013
MARTIN: Das Geschäft lief jetzt kontinuierlich gut, die Anfragen zu Ausschreibungen im militärischen Sektor waren sehr
zeitintensiv, sodass ich 2015 meinen Job aufgab und Sebastian Vollzeit unterstützen konnte. Auf der IWA Messe stellten
wir das erste mal aus. Zur gleichen Zeit zogen wir wieder um. Nun in eine Halle mit 330 qm.
2015
WAS SIND EURE VISIONEN FÜR DIE ZUKUNFT?
MARTIN: Oh, wir haben viele Visionen, die wollen wir jetzt noch nicht alle verraten, sind aber täglich dabei diese Realität
werden zu lassen. Um diese umzusetzen, wächst unser Tacticaltrim-Team kontinuierlich wie auch unser Lager.
Im Oktober 2022 sind wir wieder in eine größere Halle mit 900 qm umgezogen.
2022
SEBASTIAN: Am Anfang war es der Missstand - die fehlerhafte, kaputte oder nicht vorhandene Kleidung/Ausrüstung, die
uns dazu gebracht hat, aus Zweckentfremdung etwas Neues zu erschaffen. Der Glaube an die Realisierung unserer Idee,
die wir trotz allen Widerständen, die uns entgegenschlugen, verwirklichen konnten, gibt uns den Weg in die weitere
Zukunft vor. Weiterhin möchten wir allen Menschen, die Interesse haben, ihre Ausrüstungen zu reparieren, oder neue zu
entwickeln eine umfängliche Plattform zum Erreichen Ihrer Ziele bieten.
MARTIN: Das Gleiche gilt natürlich auch den Unternehmen, die neue Ausrüstungen oder Qutdoor Bekleidungen kreieren.
Auch diesen stehen wir weiterhin als Handelspartner mit unserem Wissen und Know-how zur Seite. Unsere Vision
beinhaltet nicht nur, dass alle Menschen bei Tacticaltrim die qualitativen besten Artikel erwerben können, es soll auch ein
Lexikon zum Nachschlagen bereitgestellt werden, ein aufl eben unseres Forums zum Gedankenaustausch und Hilfe bei
Fragen zur Umsetzung. Im Besonderen die Vorstellung der Produkte und ihrem Einsatz in kurz Videos sowie DIY-Videos
um ihr Projekt bestmöglich zu realisieren.
WANN VERWIRKLICHST DU DEIN NÄCHSTES PROJEKT?
MARTIN: Wir beide waren ja noch in ganz normalen Jobs berufstätig. Zu derselben Zeit sind wir auch das erste Mal Eltern
geworden, als wir uns nebenbei eine eigene Existenz aufbauen wollten. Uns kam der Gedanke, dass es bei Produzenten
immer Überproduktionen gab, so wälzten wir die Telefonbücher, riefen die relevanten Lieferanten an und kauften die
Restbestände auf. Aber das waren natürlich alles keine zuverlässigen Lieferanten. Wenn sie keine Überproduktion hatten
– hatten wir keine Ware. Und die Restbestände, die für uns über waren, stellten wir in Ebay rein und die waren ratzfatz
weg. Wir dachten nach und haben gesagt okay, wir haben also diese Marktsituation, wir haben diese Kundengruppe, wir
haben Menschen, die als Unternehmer dieses Bedürfnis erfüllen wollen, die konfektionieren möchten. Alle von denen
stehen vor den exakt selben Problemen wie wir. Dann trafen wir eine Entscheidung, wir gehen einen Schritt zurück und
machen den ganz klassischen Großhandel für diese Firmen, die genau dies tun wollen, die auch die Design-Kapazitäten
haben, die auch die Probleme kennen, die auch mit der Truppe reden, die auch da kreativ sein möchten. Das sind fast
alles ehemalige Anwender/ Soldaten, die die neuen Unternehmen gegründet haben. Wir fokussierten uns auf den ganz
klassischen Großhandel. Wir kauften 1000 Meter ein und schnitten es in einen Meter oder 10 Meter, was der Kunde sich
leisten konnte. Und in dem Mix von vielen kleinen Kunden wurde es halt ein großer. Das ging eine Zeit so und wir inves-
tierten durch die Verkäufe immer wieder in neue Einkäufe.